Moderne Autos sind sicher. Zu sicher? Immer häufiger befinden sich die Designer in der Zwickmühle zwischen Sicherheitsanforderungen und Sichtverhältnissen. Ein neues Problem mit potentiell lebensgefährlichen Nebenwirkungen.
Gutes Wetter, kaum Verkehr, auf den ersten Blick kein anderes Auto weit und breit. Frank Hamprecht fährt an und wird plötzlich wie vom Schlag getroffen: Aus dem Nichts taucht vor seinen Augen ein Kleinwagen auf. Nur durch eine Vollbremsung kann der Unfall verhindert werden. Keine Unachtsamkeit, keine Hitzigkeit und auch kein zu hohes Tempo – der junge Mann aus Hamburg wurde vielmehr beinahe ein Opfer der Sicherheitsstrukturen seines eigenen Autos. Denn um die Passagiere optimal schützen zu können, sind heute Karosserien mit teils wuchtigen Strukturkomponenten nötig, die die Sicht so weit einschränken können, dass sie bereits kontraproduktiv für die aktive Vermeidung von Unfällen sind.
Insbesondere die sogenannten A-Säulen (Träger, die auch die seitliche Begrenzung der Frontscheibe bilden) schränken die Sicht – teilweise ganz erheblich – ein. Mit fatalen Folgen: Es passieren Unfälle, weil Fußgänger, Fahrrad- und Motorradfahrer und sogar Personenwagen vom Fahrer nicht gesehen werden können, da sie im entscheidenden Moment von diesen Bauteilen verdeckt worden waren.
„Die A-Säule,“ erklärt Rodolfo Schöneburg, Leiter passive Sicherheit und Fahrzeugfunktionen bei Mercedes, „muss unterschiedlichsten ganz erheblichen Belastungen standhalten.“ Bei einem Dachaufprall nach einem Überschlag, dem Off-Set-Crash bei einem Frontalzusammenstoß, oder der Heckunterfahrung, wenn ein PKW unter einen LKW gerät, soll, so das Ziel der Entwickler, die Fahrgastzelle nicht kollabieren. Zudem müssen die A-Säulen Platz bieten, um Windowbags verstauen zu können und – last, but not least – fordern US-Gesetze ein starke Polsterung, um Kopfverletzungen bei einem Aufschlag zu mindern.
Gefahr erkannt. Ein eigens konzipiertes Forschungsfahrzeug liefert den Ingenieuren wichtige Erkenntnisse für Konstruktionen, die helfen sollen, dem sehr speziellen neuen Unfalltypus entgegen zu wirken. Was wie eine skurrile Kreuzung zwischen einem Ufo und einem Mercedes aussieht, ist kein Werk übergeschnappter Designer. „Im sogenannten Glaskuppelauto“, erklärt Martin Wünsche, Mercedes’ Chef-Ergonom, „genießt der Fahrer eine optimale Rundumsicht, die an Kreuzungen und beim Abbiegen von großem Vorteil ist. Das ist aber bei einem konventionellen Auto konstruktionsbedingt nicht realisierbar.“
Ziel des Projekts ist es deshalb, herausfinden, welchen Blickbedarf Autofahrer haben, um sich sicher im Verkehr bewegen zu können. Durch Abkleben einzelner Bereichen der Plexiglaskuppel mit undurchsichtigem Klebeband simulieren die Ingenieure unterschiedlichste Formen von A-Säulen. Mittels aufwendiger Kameratechnik, die genau registriert, wohH der Fahrer im Verkehr blickt, ermitteln sie Alternativen für spätere Serienmodelle. Löbliche Basisarbeit, doch an der grundsätzlichen Problematik, dass Autos unsicherer werden, um mehr Sicherheit in ihnen unterzubringen, werden auch die Forscher nur wenig ändern können. Um so wichtiger, dass sich der Fahrer jederzeit über seine „Sichtbehinderung“ im Klaren ist.
UNFALLFORSCHER FORDERN DEN „ZWEITEN BLICK“
Jörg Ahlgrimm, Leiter der DEKRA-Unfallanalytik: „Gerade im Bereich übersichtlicher Kreuzungen passieren Zusammenstöße, weil ganze Fahrzeuge durch die Sichteinschränkung von A-Säulen verborgen werden können. Dauert bei einem der Fahrzeuge die Sichtverdeckung länger, wähnen sich die Unfallbeteiligten oft in einem gefährlichen Irrtum: Der Wartepflichtige sieht den anderen Verkehrsteilnehmer nicht, während der Vorfahrtsberechtigte davon ausgeht, selbst gut gesehen werden zu können. Hier sind besonders Fahrrad- und Motorradfahrer betroffen.“ (Grafik unten) Sein Rat: Bei der Annäherung an eine Kreuzung bewegt man sich im Auto nach vorn und auch zur Seite. Damit verändert man seinen Blickwinkel und kann so den Sichtschattenbereich hinter dem Dachpfosten einsehen.